PARTITUR LANDSCHAFT
Zu neuen Zeichnungen von Bertram Castell
Die seit 1978 in konsequenter Folge entstandenen Zeichnungen von Bertram Castell konfrontieren nicht nur innerhalb des bisherigen Gesamtwerkes dieses Künstlers mit einer grundlegenden Möglichkeit der bildnerischen Auseinandersetzung mit der Landschaft. Castell interpretiert Landschaft und Landschaftliches primär in grafischen Strukturen, Rhythmen und spannungsreichen Akzentuierungen gestischer Art, die entfernt an das frühe Informel denken lassen. In seiner spontanen, großzügigen Arbeitsweise neigt er dabei deutlich und engagiert zum Skizzenhaften, zur eigenständigen, freien Interpretation landschaftlichen Geschehens und Erlebens, das immer auch etwas von jener schwer definierbaren Aufbruchsstimmung in sich birgt, welche von einem herben, noch weitgehend unver-sehrten Landstrich ausgeht.
Was Castell besonders interessiert und auch den zentralen Angelpunkt seiner bildnerischen Bemühungen ausmacht, ist das Elementare einer Landschaft, ist die Aufdeckung eines Organismus und Wesens. Dies geschieht nun keineswegs in einer äußerlich kopierenden, penibel realistischen und somit einer von vornherein zum Scheitern verurteilten Art und Weise, sondern in einer – parallel zu den Eindrücken der Natur vorgenommenen - künstlerischen Neuschaffung, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und Kriterien gehorcht.
Bertram Castell bekennt gern, dass diese meist mit Rohrfeder auf grobem handgeschöpftem Büttenpapier gezeichneten Darstellungen durch seine Landschaftseindrücke und Erlebnisse im östlichen Mühlviertel geprägt wurden und werden. Der Prozess des Aufnehmens und Empfangens ist jedoch ein völlig anderer als der des Verarbeitens und künstlerischen Wiedergebens, der bei ihm auch weniger in der Natur und vor dem Objekt als im Atelier stattfindet. Die Art, wie Castell die Dinge sieht, legt den Schluss nahe, in der Zeichnung auch ein Psychogramm, eine Partitur der eigenen Sensibilität und nicht so sehr die freie Wiedergabe eines ganz konkreten landschaftlichen Eindrucks zu erblicken. Merkmale größter Individualität, wie sie insbesondere durch das handschriftliche Element, den persönlichen Duktus und Atem dieser Blätter gegeben sind, verbinden sich in den beherrschten, das große Querformat bevorzugenden Kompositionen mit den stärker objektivierbaren Kriterien zeichnerischer Tektonik, formaler Ausgewogenheit und Spannung.
Eine wichtige Rolle in Castells Zeichnungen spielt auch das ausgesparte Weiß des Papiers, das mit dem vehementen, vielgestaltigen, sich in Kleinigkeiten verlierenden Tuschstrich eine gewachsene Einheit bildet.
Für den Betrachter bedeutet die lohnende Beschäftigung mit den Zeichnungen des Wieners das Aufgreifen und nachvollziehende Interpretieren eines fortschreitenden Impulses, in den – bildnerisch gefiltert – all das einfließt, was – nicht nur bei diesem Sujet – dann zum Ausdruck kommt, wenn ein wahrhaftiges und nicht durch bloße Äußerlichkeiten bestimmtes künstlerisches Bemühen ebenso vorliegt wie die Fähigkeit zu tatsächlich adäquater bildnerischer Umsetzung.
War das Betrachten von Bildern und Grafik für den wirklichen Kenner immer schon ein Prozess relativierenden Verstehens und Wertens, so kann auch das auf komplexen Voraussetzungen beruhende Entstehen von Kunst nicht als etwas Absolutes, Normierbares, Akademisches und konsequent Erlernbares begriffen werden, sondern auch nur als Ergebnis eines vielen Kämpfen, Überlegungen und Relativitäten unterliegenden Bemühens, den uns innerlich bestimmenden Vorgängen, Empfindungen und Erkenntnissen individuell, doch mit dem Anspruch und der Möglichkeit auf Verbindlichkeit Gestalt zu verleihen.
Peter Baum, 1981